Wald, Wasser und weites Land

Wald, Wasser und weites Land

Strandwandern an der Ostseeküste, waldumkranzte Seenlandschaften und endlos weite Horizonte. Thomas Bichler hat die vielfältigen Landschaften von Mecklenburg-Vorpommern zu Fuß erkundet.
[Wanderbares Deutschland 2020]

WANDERUNGEN in Mecklenburg-Vorpommern.  Unwillkürlich kommen da rauschende Wellen am Strand, geschwungene Hügel – mal knallrot und himmelblau getupft, mal leuchtend gelb – zartgrüne Wälder im Frühling und strahlend weiße Klippen über der Ostsee in den Sinn. Als ich vor 15 Jahren das erste Mal an der Ostsee gewandert bin, war es ein glücklicher Zufall. Seitdem zieht es mich Jahr für Jahr vom Alpenrand kommend bis in den Nordosten Deutschlands. Die Ostsee, die Seenplatte, Rügen, Usedom, der Darß sind längst zur großen Liebe geworden.

WANDERN geht hier anders, nordisch entspannt, wie es auch die Menschen sind. Es gibt keine hohen Berge zum Bezwingen, es gibt neben den europäischen Fernwegen E9, E9a und E10 nur wenige lange Touren (der Müritz-Nationalpark Weg und die Kloster-
Dreieck Rundtour sind die bekanntesten). Dafür gibt es Tageswanderungen für jeden Geschmack: Die Darßer Sterntouren führen zum Leuchtturm am Weststrand, über junge Dünen und den urigen Darßwald. Strand und Küste verbindet auch die Rostocker Heide Rundtour. Auf 20 Kilometern geht es ohne Höhenunterschiede durch den größten geschlossenen Küstenwald in Deutschland bis an den endlosen Sandstrand vor den Toren der Hansestadt Rostock. Auf und Ab gibt es auch: Wer auf der Insel Rügen den Hochuferweg von Sassnitz durch den Nationalpark Jasmund bis nach Lohme wandert und die Treppensteige durch Piratenschlucht und am Kieler Bach zum Fuß der überwältigenden Kreideklippen mitnimmt, kommt immerhin auf rund 350 Höhenmeter. Ein ganz anderes Gesicht der größten Insel Deutschlands zeigt der Bodden-Panoramaweg. Noch kann man auf dem Rügener Qualitätswanderweg mitunter ganz alleine wandern. Dabei sind die 24 Kilometer zwischen dem Fährhafen Mukran, dem Südufer des Großen Jasmunder Boddens, den slawenzeitlichen Hügelgräbern in den Schwarzen Bergen und dem beschaulichen Neuenkirchen ein herrliches Natur- und Kulturerlebnis abseits der Trampelpfade. Mit etwas Glück lassen sich vom Weg aus sogar Seeadler und Fischotter beobachten.

DAS WETTER wechselt ständig. „Wanderschirme führt hier kein Laden. Dazu ist es hier zu windig und es regnet eh nie lange“ war die Antwort in einem Sportgeschäft in Stralsund auf meine Suche nach Ersatz für den zu Hause vergessenen Regenschutz. Macht Sinn. Tatsächlich zieht eben noch eine „Husche“ durch und schon strahlt wieder die Sonne. Die Vorteile des Flachlandes. Das verteilt sich zwischen sagenhaften 2000 Kilometern Küstenlinie und den Ufern von Elbe und Oder. Dazu kommen noch über 2200 meist von Wald umgebene Seen. Bäume und Wellen gehören hier einfach zusammen. Dass sich da großartige Möglichkeiten zur Naturbeobachtung bieten, liegt auf der Hand. Greifvögel wie See- und Fischadler gehen an den Binnengewässern auf Beutefang, Großwild streift durch die Wälder. Im Frühjahr und Herbst schauen Kraniche auf ihren Vogelzügen vorbei. Statt Schirm gehört vielmehr ein Fernglas in den Rucksack.

AM SPÜLSAUM läuft es sich am besten. »Da ist der feine Sand von den Wellen festgedrückt« weiß Annett Liskewitsch. Meine Wanderbegleitung geht seit einigen Monaten professionell Wandern. Ihren stressigen Marketingjob hat sie an den Nagel gehängt, als dieser sie zu erdrücken drohte. »Raus aus dem Büro, rein in den Wald« war das Motto der neuen Ausrichtung ihres Lebens. Als »Schrittemacherin « begleitet sie heute Frauen beim Wandern rund um Rostock (in der Rostocker Heide und am Ostseestrand), die wie sie selbst vom hektischen Leben überholt wurden. Sie hört zu, erzählt, schweigt mal gemeinsam und gibt ihr (auch) beim Wandern gesammeltes Wissen über Entspannungsmethoden weiter. »In Begleitung macht Wandern auf Dauer einfach mehr Spaß.« Recht hat sie. Der gegenseitige
Austausch über so manche Parallelen im Leben tut gut. Ihre Wanderungen passt Annett Liskewitsch den Bedürfnissen und Wünschen ihrer Begleiterinnen an. »Blaue Wege«, auch mal barfuß am Strand mit den Füßen im Ostseewasser. »Grüne Wege« durch die Heide, auf Wiesenwegen durch die Kösterbecker Berge oder auf Waldpfaden im bizarren Nienhagener Gespensterwald. »Rote Wege« auf historischen Spuren durch die Gassen der hanseatischen Backstein-Altstadt von Rostock.

AUF DEM DARSS zu wandern, ist viel mehr beschauliches Waldwandern, als man so nah an der Küste erwarten würde. Mehr noch, es ist ein echtes Walderlebnis, dessen Wechselspiel immer aufs Neue fasziniert: Dichte Buchenwälder, nordische Wildnis im flechtenüberzogenen Fichtenwald. Dann völlig unvermittelt geflutete Sumpfwälder wie am Amazonas. Wenige Schritte weiter eine weitläufige, von schmalen Wasserläufen durchzogenen Schilflandschaft. Mit etwas Glück lassen sich dort Rothirsche am Strand beobachten. Noch ein paar Meter weiter weicht der Wald endgültig zurück und öffnet sich zu einer sandigen Dünenlandschaft. Und dann die Küste … und dann die Ostsee. Henrik Schmidtbauer kennt den Darßwald wie kaum ein zweiter. Er bietet im Ostseebad Prerow Touren im Seekajak, zu Fuß oder mit dem Rad an – oder schickt seine Gäste in die Baumwipfel, so wie heute. »Ein Baum lebt«, erzählt er beim Festzurren des Klettergurtes und erklärt die Funktion der »Monkey’s« – Klettergriffe, die per Gurtband an den Bäumen befestigt werden, ohne ihnen zu schaden. »Ein Baum ist keine starre Kletterwand, er bewegt sich im Wind.« Der bläst an der Ostsee eigentlich immer und so ist die neue, ungewohnt eindrucksvolle Perspektive aus rund zehn Metern Höhe auch ein leicht schwankendes Erlebnis.

EINE WELLE nach der anderen trifft auf den Kiesstrand, zieht sich wieder zurück und lässt dabei die runden Steinchen mit einem fast schon meditativen Knistern und Klickern hinter sich her kullern. Sekunden später wiederholt sich das subtile Hörspiel, immer und immer wieder, untermalt vom beständigen Rauschen des kleinen Wasserfalls, der hier auf den Kiesstrand stürzt. Christine Krohnfuß sitzt neben mir auf der obersten Stufe der steilen Holztreppe: »Lässt sich hier nicht herrlich abschalten und runterfahren?« Wir sind unterwegs am Hochuferweg. Oder, um genau zu sein, wir sind von Sassnitz entlang der berühmten Kreidefelsen hoch über dem Meer bis zum Kieler Ufer gewandert und wollen unseren Weg von hier bis zum Nationalpark-Zentrum fortsetzen. Die Pause an der Treppe tut uns gut. Das unerwartete Auf und Ab verlangt überraschend viel Kondition.

VOR UNS LIEGT DIE OSTSEE, ein Ausflugsschiff tuckert in Richtung Königsstuhl – dem höchsten Fels der eindrucksvollen Küstenlinie – dreht mit respektvollem Abstand eine Runde und fährt zurück. Zu Fuß ist das Erlebnis doch weit intensiver, auch wenn man hier selten alleine unterwegs ist. »Ende September«, erzählt Christine, »bin ich mal mit einer kleinen Gruppe am Abend auf der Fortsetzung des Hochuferwegs nach Lohme gewandert. Da es regnete, war niemand sonst unterwegs – außer einer Gruppe Dammwild mit Kitzen und einer Dachsfamilie beim Spielen.«

DIE DICHTEN BUCHENWÄLDER im Nationalpark Jasmund, die zum UNESCO Weltnaturerbe zählen, bieten neben Großwild wie Damhirsch, Rothirsch, Rehwild und Schwarzwild auch zahlreichen kleineren Tieren, Amphibien, Reptilien und Vögeln einen sicheren Platz. »In den Steilflanken der Stubbenkammer brüten auch Seeadler« klärt mich meine Begleiterin auf und ermuntert mich zum Weitergehen. Neben der Faszination am Meer zu wandern ist es auch dieser herrliche Wald, der mich immer wieder in seinen Bann zieht. So oft ich hier gelaufen bin, mit so kundiger Begleitung ergeben sich völlig neue Perspektiven und Einblicke.

[…]

Close Menu