Im Appenzellerland wünscht man sich zweimal ein „Gutes Neues Jahr“. Stets am 31. Dezember und am 13. Januar, den Jahreswenden des gregorianischen Kalenders und des alten julianischen Kalenders, ziehen Silvesterchläuse durch die tief verschneite Landschaft zwischen Bodensee und Säntis.
[Bodensee Ferienzeitung, Dez 2012] Es ist früh am Morgen, klirrend kalt. Noch ist die unter einer dicken weißen Schneedecke versteckte Voralpenlandschaft in diffuses Dämmerlicht getaucht. Kein Laut durchbricht die eisige Winterstille. Nur der hart gefrorene Schnee knirscht unter meinen Schuhen. „Was mache ich nur so früh hier draußen?“, schießt es durch meinen Kopf. Ich stapfe weiter durch den Tiefschnee, bergauf, einen einsam liegenden Hof im Visier. Vielleicht habe ich hier Glück? Alles ist noch dunkel, kein Licht brennt, nicht einmal der Bläss mag mich anbellen. Auch den sonst so giftig kläffenden Appenzeller Sennenhunden ist es wohl zu kalt. Es hat angefangen zu schneien. Vielleicht sollte ich umkehren? Ohne zu überlegen bleibe ich doch noch einmal stehen – und lausche in die Stille. War es doch nur der Wind? Nein, da ist etwas zu hören. Erst ganz leise, scheinbar weit entfernt. Dann immer näher kommend. Aus dem Schneegestöbert dringt ein archaischer, rhythmischer Klang zu mir. Eingehüllt in Glockengeläut tauchen sonderbare Gestalten aus dem milchigen Weiß auf.
Schööne, Wüeschte und Schöö-Wüeschte
„Fast wäre die Appenzeller Art das neue Jahr zu begrüßen Mitte des letzten Jahrhunderts ausgestorben“, erzählt mir Werner Meier in seiner warmen Kaminstube. Gut, dass bei den Appenzellern das Traditionsbewusstsein neu erwacht ist. Chlausen ist heute wieder „in“. Die Appenzeller haben das „Drehen, Rollen und Zauren“ einfach im Blut und können wohl gar nicht anders. An Nachwuchs mangelt es jedenfalls nicht. Einen ordentlichen Anteil an der Wiederbelebung hat auch Werner Meier geleistet. In Stein geboren und aufgewachsen, hat er das „Drehen, Rollen und Zauren“ im Blut und war viele Jahre selbst mit den „Schönen Stääner“ unterwegs. Heute hält er als Künstler das Treiben auf zeichnerische Art fest und kann als Lehrer für bildnerische Gestaltung in Trogen die Tradition auch dem Nachwuchs ans Herz legen.
Die Hochburgen der Chlause sind seit jeher die beiden Dörfer Urnäsch und Waldstatt. Auch in Schwellbrunn, Schönengrund, Herisau, Hundwil und Stein pflegt man wieder den Brauch. Mit Teufen, Bühler und Speicher erobern sich die Chläuse langsam auch das Mittelland zurück. Ein Schuppel „Schööne“, eine Gruppe jener Silversterchläuse mit den kunstvoll und reich verzierten Kopfbedeckungen die meist regionale Themen behandeln, besteht traditionell aus sechs Figuren: Einem „Vorrolli“ mit weißer Blume im Mund, vier „Schelli“ und einem „Noerolli“ mit blauer Blume im Mund. Die Schelli unterscheiden sich in weibliche Figuren, den Rollewiiber, mit Frauenkleidern und Schellen und dem Rücken und dem „Mannevolch“ mit meistens zwei großen Kuhglocken. Die „Schöö-Wüeschte“ sind mit Tannenreisig, Moos und anderen Naturmaterialien verkleidet, ähneln aber zumindest ein wenig den Schönen. Ganz anders die „Wüeschte“, die reichlich grob und furchteinflößend erscheinen. Das Herstellen der einzigartigen Verkleidungen nimmt fast das ganze Jahr in Anspruch. Schellen und Rollen wollen geschmiedet, die Fratzen der wüsten Chläuse geschnitzt und Kleidung genäht und kunstvoll verziert werden. Am meisten Arbeit bereiten die prachtvollen, Geschichten erzählenden Hauben der Schönen. Natürlich alles unter strengster Geheimhaltung, denn auch der inoffizielle Wettbewerb der schönsten Kostüme gehört zum Brauchtum dazu und treibt die Schuppel zu gestalterischen Höchstleistungen. Gefertigt wird alles mit viel Liebe und Leidenschaft, meist in gemeinschaftlicher Handarbeit und oft mit weiblicher Unterstützung. Ansonsten ist das Silvesterchlausen eine reine Männerwirtschaft. Frauen bleiben außen vor, müssen sich bei so manchem Silvesterchlaus gar mit seiner wahren Liebe arrangieren. Klar, dass bei solch einer Geheimniskrämerei die Türen zu den Werkstätten meist verschlossen bleiben. Einblicke in das bunte Treiben gewährt aber das Brauchtumsmuseum Urnäsch. Dort stehen zahlreiche lebensgroße Figuren, an denen sich die Kostüme aus nächster Nähe bestaunen lassen. Im Volkskundemuseum Stein (AR) liegt der Schwerpunkt auf der Handwerkskunst der alltäglichen bäuerlich-sennischen Kultur.
Chlausen ist harte Arbeit
Der Tag eines Silverchlaus ist anstrengend und lange“, erinnert sich Werner Meier. Am neuen Silvester, am 31. Dezember, treffen sich die Schuppel nach einem währschaften z’Morge schon um fünf Uhr auf dem Dorfplatz zum Frühchlausen. Sobald die Lichter im Dorf erloschen sind umgibt eine mystische Atmosphäre den Platz. Das Publikum verfällt in andächtiges Schweigen, kein Mucks ist zu hören außer rhythmischen Läuten und getragenem Zauern. Der Appenzeller Naturjodel geht wirklich unter die Haut. Nach einer guten Viertelstunde ist der erste Spuk vorbei. Die Chläuse ziehen sich zu einem währschaften z’Morge zurück. Im ersten Tageslicht beginnen die Züge der Schuppeln von Hof zu Hof, durch die Orte und in die Beizen zu ziehen. Anders als bei den wilden ungezügelten Hexengruppen der schwäbisch-alemannischen Fasnet oder beim Krampuslaufen im ostalpinen Raum, folgen die Silversterchläuse strengen Ritualen. Zwischen den Höfen hört man von ihnen nur das leise Anschlagen der Schellen beim Gehen. Näheren sich die Chläuse aber einem Hof, beginnt der Vorrolli mit Drehen und Tänzeln, gefolgt von seinen Schellenchläusen und dem Nachrolli am Ende des Zuges. Vor dem Haus stellen sie sich im Kreis auf, schellen und rollen in einem ganz bestimmten Rhythmus und erzeugen so diesen magischen Klang, der noch tagelang im Ohr widerhallt. Dann wird ein „Zäuerli“ angestimmt. Dreimal wiederholt sich das Schauspiel. Dann wird den Bewohnern ein gutes neues Jahr gewünscht und in der gleichen Reihenfolge wie gekommen durch die urige Winterlandschaft zum nächsten Haus weiter gezogen. So geht das bis spät in die Nacht weiter. Manchmal gar bis zum frühen Morgen des nächsten Tages, wenn die Stimmung in den Beizen zu gut ist. Kein leichter Job. Immerhin wiegen schon die beiden Kuhschellen locker über zwanzig Kilogramm. Dazu kommt noch das Kostüm. Am 13. Januar, dem, alten Silvester, ist der Tagesablauf derselbe, nur das Frühchlausen findet nicht statt. Später am Tag sammeln sich die einzelnen Schuppel. Am Ende führt praktisch jeder „Schtrech“, die vorher festgelgete Route der Schuppel, hinab ins Tal. Dort wird aus dem archaischen Erlebnis schnell ein Volksfest. Alleine in Urnäsch säumen Tausende Zuschauer die Straßen. Fotoapparate werden gezückt, Blitzlichter grellen auf, Grillwürschtleduft liegt in der Luft. Fast gehen die Silversterchläuse im Wirrwarr unter. Augen und Ohren können kaum noch folgen. Erst am Abend, wenn die meisten längst auf dem Heimweg in Richtung Stadt sind, sind die Appenzeller wieder mehrheitlich unter sich, sitzen in einer Beiz beim Wein zusammen und zauren. Ich steige im letzten Tageslicht wieder auf den Berg, zurück in die entrückte Stille eines klirrend kalten Wintertags – noch immer mit diesem magischen Klang im Ohr.