Pays de Neuchâtel – Uhren, Schluchten, Seen – das Schweizer Jura hat natürlich noch mehr zu bieten. NATURE-FITNESS-Redakteur Thomas Bichler hat das stille Land über dem Lac de Neuchâtel erwandert.
[Nature Fitness]
Müssen Wecker im Urlaub wirklich um 6 Uhr klingeln? Manchmal ja! Diesmal lohnt es. Sonnenaufgang auf der Tête de Ran. Keine zehn Minuten sind es vom Hotel zum Gipfel. Frühsport vor dem Frühstück, belohnt mit schrillen Farben über dem fernen Chasseral und dem Nebel des Mittellandes. Tiefe Zufriedenheit, die sich beim Morgenkaffee über das Schweinehundüberwinden breit macht. Als wir später wieder am Gipfel stehen, ist der Farbrausch natürlich der Sonne gewichen.
Der Jura-Hauptwanderweg »Chemin des Crêtes« zieht über einen langgestreckten, aussichtsreichen Bergrücken hinüber zum benachbarten Mont Racine, produziert eine locker leichte Wanderstunde nach der anderen, zwingt uns einen Zwischenabstieg zum flachen Passübergang La Tourne auf und lässt uns nach dem Wiederanstieg abrupt innenhalten. Unvermittelt bricht der bis dahin unspektakuläre Bergzug über Hunderte von Metern senkrecht in die Tiefe der Gorges de l’Areuse ab. Les Tablettes heißt der Logenplatz über Noiraigue, dem Creux du Van genau gegenüber.Kehre um Kehre zieht der schmale »Sentier des 14 contours« von Noiraigue durch dichten Wald nach oben. Irgendwann haben wir aufgehört mit zu zählen, keuchen und schnaufen und schauen immer wieder sehnsüchtig nach dem blauen Streifen der weit oben am Berg durch die Bäume leuchtet. Dann zwei, drei letzte Schritte und gleißendes Sonnenlicht lässt uns die Augen zusammenkneifen, um sie dann fast ungläubig vor Staunen weit aufzureißen.
Wir stehen am Rand des Creux du Van. Blicken von der Felskante hinab in den ungeheuren Felsenkessel. 160 Meter senkrecht stürzen die Wände vom Gipfelplateau des 1463 Meter hohen Mont Soliat in einen ebenmäßig halbrund geformtes Amphitheater. Riesige Felsblöcke einstiger Bergstürze türmen sich im Kessel auf, tannenbewachsen, winzig klein von hier oben. Irgendwo dazwischen die mystische, heilige Fontaine Froide, deren Wassertemperatur immer 4° C misst – im Sommer wie Winter. Nach Norden schweift der Blick über die dunkle Kerbe der Gorges de l’Areuse, verliert sich hinter den Höhen des Mont Racine und der Tête de Ran, den beiden Zielen des Vortages. Den Panoramablick nach Süden, auf Mont Blanc und Berner Alpen verhindert heute der Dunst über dem Lac de Neuchâtel. Im Herbst, wenn die Tage klar und kalt sind reihen sich von hier die hohen Berge des Westalpenbogens aneinander. Ein Stück abgesetzt duckt sich die Ferme du Soliat in die Graskuppen der Hochalm Nouvelle Censiere. Zeit für einen zweiten Kaffee und ein knuspriges Nusshörnli, bevor wir die letzen paar Meter bis zum höchsten Punkt aufsteigen. Hin und wieder poltern Steine in den Kessel, ob das wo wohl die Steinböcke und Gemsen sind, die hier in den Steilwänden leben? Dann sind sie da – gleich eine ganze Herde Muttertiere mit Kitzen. Stehen einfach so auf der Wiese, tollen bocksprüngig über die Bruchsteinmauern, beäugen uns neugierig. Weit mehr Glück braucht es, um einen der Luchse zu sehen, die hier angeblich durch die Wälder streifen. Am Pré au Favre weisen Wegweiser in alle Himmelrichtungen. Rechts geht es unendlich weit bergab bis nach Bevaix am Ufer des Lac de Neuchâtel. Geradeaus zieht der Jurahöhenweg auf den behäbigen Montagne de Boudry, gefolgt von einem mörderischen Abstieg in die Gorges de l’Areuse. Wir entscheiden uns für die knieschonendere Variante, biegen links ab, und erst noch zur Ferme Robert, mitten im felsigen Herzen des Creux du Van. Das traditionsreiche Berggasthaus ist Sitz der Amis de la Ferme Robert. Dieser Zusammenschluss aus Club Jurassien (dem Wanderverein), Pro Natura, WWF Neuchâtel und anderen Einrichtungen kümmert sich um den Erhalt des Naturreservates Creux du Van, der Ferme und des Infozentrums.
Rauschende Gorges. Die Areuse ist ein ungewöhnlicher Fluss. Ans Tageslicht tritt sie mit einer mittleren Schüttung von 700 Litern pro Sekunde in einer Felsenge bei St. Sulpice im westlichen Val de Travers. Ihren Ursprung hat sie aber im Lac de Taillères, der als langgestreckter See im sechs Kilometer entfernten Vallée de la Brévine liegt. Nach dem spektakulären Auftakt fließt die Areuse durch das breite, völlig ebene Val de Travers, schluckt den viel längeren aber wasserarmen Seitenbach Buttes, schlängelt sich gemütlich durch die städtisch wirkenden Dörfer Fleurier und Couvet und erreicht bei Noiraigue den Eingang in die Schluchten.
Schlagartig ändert sich die Landschaft und mit ihr auch das Wesen der Areuse. Steile Felswände. Der Fluss schäumt und gischtet. Eine winzige Steinbrücke führt über den Wasserfall Saut du Brot. Dann wird es wieder stiller, das Tal weitet sich, gibt den Blick frei auf einen TGV, der sich hier auf dem Weg nach Paris müht. Danach taucht der Weg in die unteren Schluchten ein, windet sich um Felsabsätze, springt mit dem Wasser talwärts bis nach Boudry. Im dortigen Schloss ist ein sehenswertes Winzermuseum eingerichtet, das auch die Geschichte der »durchgeknallten« einstigen Burgherrin Margrit de Vufflens erzählt. Diese hat nicht nur ihre Untertanen geplündert und massakriert, sondern hätte um ein Haar den ganzen Ort abgebrannt, wäre nicht ihre Stieftochter Gräfin Isabelle von Neuenburg eingeschritten, um dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten. Der Wanderweg verlässt hier das Tal und biegt nach Cortaillod ab, lässt die Areuse auf den letzten Metern bis zum nahen See mit sich alleine. Ehrensache, dass das Seeufer zum Ziel auserkoren wird, wo vom kleinen Hafen Kursschiff nach Neuchâtel fahren.
Wieder ein Fluss. Der Doubs trennt die Schweiz von Frankreich, den Schweizer Jura vom Französischen Jura und den Euro vom Franken. Viel mehr Unterschiede gibt es sonst nicht rechts und links der tiefen Schlucht. Wie die Areuse, hat auch der Doubs seine Eigenarten. Seine Quelle ist westlich von Pontarlier, seine Mündung in die Saône im nur 90 Kilometer entfernten burgundischen Chalon-sur-Saône. Dazwischen liegen 430 Kilometer Flusslauf, zu Beginn strickt nach Nordosten, dann mit zwei markanten Wendungen erst nach Nordwesten, letztendlich nach Südwesten. Den Auftakt zu einem der atemberaubendsten und urwüchsigsten Canyons Europas bildet sein »Sprung« über die 27 Meter hohe Felsbarriere der Saut du Doubs, zu Fuß oder mit dem Ausflugsdampfer von Les Brenets in einer dreiviertel Stunde erreichbar. Scheint die Sonne, dann funkelt ein Regenbogen über der aufsteigenden Gischt. Anschauen, genießen, schweigend staunen. Unterhalten ist kaum möglich. Weiter flussabwärts. Bald wird der Doubs wieder ruhiger, zwangsweise, denn sein Wasser wird kurz darauf zum Stausee des Lac de Moron aufgestaut. Am Seeufer entlang schlendern wir bis kurz vor die Staumauer, dann 350 Höhenmeter steil bergauf. Die Belohnung ist der Tiefblick auf den halbmondförmigen See und die Einkehr im Berggasthaus mit der längsten Eiskarte der Schweiz. 240 Sorten verteilen sich auf einer 12-Meter-Karte! Gut, dass es noch knapp sieben Kilometer bis zum Ausgangspunkt sind. Irgendwie müssen die Kalorien ja wieder verbrannt werden. Viele Gelegenheiten dazu bieten sich aber nicht mehr. Vielmehr ist der Rückweg eine gemütliche Höhenwanderung über die Côtes de Moron und den Aussichtspunkt Belvédère.
Noch ein Tipp für Schluchtenfans. Südlich von Môtiers im Tal der Areuse windet sich die eindrucksvollste »wanderbare« Klamm des Jura bergwärts. Auf den ersten Metern stellt sich ernsthaft die Frage, was wohl die Schlucht gegraben hat. Völlig trocken liegt das Bachbett unter dem Weg. Dann erste unscheinbare Pfützen, ein heimlich leises Gurgeln unter den runden Steinen, dann immer mehr bis hin zum Rauschen – zwar nicht so laut wie unser Schnaufen auf der ersten langen Treppenreihe, aber immerhin! Die Gorges de Poëta-Raisse ist eine stille Schlucht, die ihr wahres Gesicht erst ganz am Ende mit einem Knalleffekt für Schwindelfreie zeigt. Steile Steintreppen und kühne Eisenstege ziehen am Rand der nun extrem steilen Klamm nach oben bis zum Schluchtende. Zeit zum Rasten. Dann vorsichtig zurück durch die Schlucht bis zum Wegweiser »Vieux Château«, auf schmalen Pfad über der Schlucht zu einem abgelegenen Hof und auf herrlichem Gratweg hinüber zum Schloss aus dem 14. Jahrhundert und hinab nach Môtiers. Kein Abschluss konnte besser sein.