Hüttenhühner und Mauersegler

Hüttenhühner und Mauersegler

Eine Wanderwoche links und rechts der Senda Sursilvana: Mit dem jungen Rhein flussabwärts bis Chur, zu Architektur mit Weltruf, hoch gelegenen Hütten, lachenden Megalithikern, Tiefblicken in die Rheinschlucht und leichten Gipfeln am Weg. [Outdoorwelten Som 2013]

Ein kurzer Pfiff
Ein letztes Spiegelbild im Oberalpsee, schon ist der rot-weiß gestreifte Zug im Tunnel verschwunden. Wir stehen alleine am Oberalppass. Kein Autobrummen, kein Motorradgeknatter auf der kurvenreichen Passstraße stören die Stille. So früh am Morgen liegt der Oberalppass noch im Schatten. Raureif einer kalten Sommernacht verziert Grashalme. Wasserlöcher am Weg sind mit einer hauchdünnen Eisschicht überzogen. Eigentlich sind wir für höheres nach Graubünden gekommen, wollten den Piz Medel besteigen und über die Greina in die Adula-Gruppe queren. Aber die Wetterprognose ist ungünstig. Also haben wir die Hochtourenausrüstung im Auto gelassen und stehen jetzt am Ausgangspunkt der Senda Sursilvana.

„Bun di“
Stets links des Vorderrheins folgt die Senda Sursilvana dem jungen Fluss vom Oberalppass bis Chur durch die einmalige Natur- und Kulturlandschaft der Surselva. Bündner Oberland ist die Übersetzung aus dem Rätoromanischen, das Amtssprache und Umgangssprache ist. Hier sagt man „Bun di“ und „Allegra“, statt Grüezi und Grüß Gott. Die vielfältige und dialektreiche alte Sprache, eine Mischung aus dem Rätischen und dem Vulgärlatein römischer Soldaten, hat in fast jedem Bündner Tal eine andere Färbung. Seit einigen Jahren wird sie als vereinheitlichtes „Rumantsch Grischun“ wieder an Schulen gelehrt.

Eisbaden
Sonnenfinger wandern über die Berghänge, streicheln erst nur die hohen Spitzen, tasten sich die Hänge abwärts, berühren endlich zaghaft die Talböden. Fröstelndes Schattenwandern wird fast augenblicklich zur Hitzeschlacht. Wir nehmen die Senda Sursilvana nur als Richtungsweiser und wollen auch ein paar „kleine“ Gipfel mitzunehmen. So schnaufen wir den Steig durch die steile Westflanke am Pazolastocks bergan. Unsere Stockspitzen tickern rhythmisch auf dem harten Gotthardgranit. Schritt für Schritt tauchen mehr Gipfel auf. Berner Eisriesen leuchten am Horizont. Granitgraue, zerrissene Felstürme zacken in den milchig-blauen Morgenhimmel über den Glarner Alpen. Unnahbar wie ein Monarch steht der Tödi über dem sich weit im Osten verlierenden Vorderrheintal. Kaum geht es auf Mittag zu, schrauben sich schon erste Gewittertürme in die Höhe. Tümsli und Rossbodenstock stehen noch auf dem Programm. Dank viel Geröll ist es ein kurzer Abstieg zum Lai da Tuma. Erst ein verdientes Bad im Quellsee des Rheins, nichts für Warmduscher, aber wahnsinnig erfrischend, dann Dösen im Schatten eines mächtigen Granitblocks. Kein Grund zur Hektik, als erstes Donnergrollen zum Aufbruch mahnt. Die Badushütte ist nur ein paar Minuten entfernt.

Wiederstand
Am nächsten Morgen lacht wieder die Sonne. Ein steiler, felsiger Pfad schraubt sich am Piz Badus in die Höhe. Die berüchtigte „Schlüsselstelle“ wenige Meter unter dem Gipfelkreuz will uns aufhalten, schafft es aber nicht. Dann stehen wir oben. Schweigend. Glücklich. Überwältigt vom Panorama. Die halbe Schweiz liegt uns zu Füßen. 1785 stand auch Placidus a Spescha hier oben. Der Pater aus dem Kloster Disentis hat schon um 1800 Rheinwaldhorn, Oberalpstock und Piz Terri bestiegen. Die hat er uns noch voraus. Seine „Anleitung zur Unternehmung von Bergreisen“ gilt als einer der frühesten Bergführer der Alpen. Übermut wird meist bestraft. Wir wollen doch zur legendären Greina. Hätten die Bündner vor 20 Jahren nicht so vehement für ihre Heimat gekämpft, gäbe es die im zentralen Alpenraum wohl einmalige Hochebene längst nicht mehr. Das drohende Wasserkraftprojekt wurde verhindert, die Schönheit erhalten. Wir jedoch sehen nichts davon. Schon beim Aufstieg zur Terrihütte hängen schwere Regenwolken am Berg. Oben ist kaum die Hand vor Augen zu sehen. Schade. Wir kommen wieder, versprochen. Am nächsten Morgen flüchten wir über den nahen Pass Diesrut in die oberste Val Lumnezia, huschen am Ortseingang von Vrin in ein kleines Café. Alles ist nass, selbst die Kamera müssen wir zum Trocknen auf die Fensterbank legen. Weil wir die einzigen Gäste sind, kommt der Bäcker aus seiner Backstube, sieht die dicke Knipse und setzt sich zu uns. Er fotografiert selbst, dokumentiert seit vielen Jahren sein Dorf. Ganz hinten im „Tal des Lichts“ wäre Vrin wohl trotz seiner prachtvollen, italienisch anmutenden Barockkirche längst in Vergessenheit geraten und ein Opfer der Landflucht geworden. Doch, „die Vriner haben sich gegen die Abwanderung gestemmt und ein Modelprojekt zur Stärkung dörflicher Infrastruktur ins Leben gerufen“, erzählt er uns Bilder zeigend. Land wurde vor Spekulation geschützt, ein Metzger, Bäcker und Käser angesiedelt, neue Gebäude im alten Stil gebaut. Die außergewöhnliche Architektur hat Stararchitekt Gion A. Caminada entworfen. Der einheimische Bergbauernsohn ist maßgeblich für den Ruhm des Dorfes verantwortlich. Bergsteiger treffen hier auf Architekturtouristen aus aller Welt, stehen ebenso staunend vor Wohnhäusern und Ställen in Holz-Strickbauweise. Caminadas Hauptwerk in Vrin ist die „Stiva da morts“, die weißgekalkte Totenstube unterhalb der Kirche. Auch die kleine Telefonkabine an der Buswendestelle ist vom ihm entworfen. Die Abgeschiedenheit ist heute der Reichtum von Vrin.

Kraftorte
Zwei Tage später lümmeln wir uns vor der Bifertenhütte im Abendlicht. Weit unten die liegen die sonnengebeizten Häuser von Brigels und das betörend schöne Val Frisal schon im Schatten, vor uns ein Panorama de Luxe im Abendlicht. Unterm Tisch hocken die „Hüttenhühner“ auf der Querstange und gackern fröhlich darüber, wer das nächste Spiegelei zu den Rösti legt. „Tussi“, die vollbusige, blonde Vogelscheuche im sexy Minirock behält derweil mit uns den kreisenden Adler über dem Kistenstöckli im Auge. Der kleine Felszapfen steht in spektakulärer Alleinlage auf dem geschwungen Gratverlauf zwischen den Dreitausendern Hausstock und Bifertenstock. Mit schwindelerregenden Tiefblicken zum eisgrünen Limmernstausee und auf zerrissene Gletscher geht es in der Nordflanke an Ketten durch Felsstufen zum überraschend geräumigen Gipfel. Wieder im Tal. Wir sitzen in den schlichten Bankreihen der Dorfkirche von Waltensburg und betrachten schweigend 700 Jahre alte Wandmalereien, mystisch, wunderbar farbig und fesselnd. Ein Stück weiter steht Burg Jörgenberg auf einem hohen Felssporn. Mystik umgibt auch das romanische Kirchlein St. Remigius neben der bedeutendsten Megalithenanlage der Schweiz. Dass die „Menhire von Falera“ in der Bronzezeit zur Bestimmung von Frühlings- und Herbstbeginn dienten weiß man. Bis heute ein Geheimnis ist dagegen das in einen Felsbrock eingravierte lächelnde Männlein.

Ruinaulta
Vor 10.000 Jahren brachen über dem heutigen Flims 10.000 Millionen Kubikmeter Fels ab und begruben das Tal des Vorderrheins unter einer viele hundert Meter dicken Schuttmasse. Der Rhein hat seinen Weg wieder gefunden. Wir verlieren uns dagegen im verzauberten Flimserwald, kommen an leuchtendgrünen Seen vorbei, betrachten wilde Orchideen und naschen Walderdbeeren. Ohne Vorwarnung bricht die Hochfläche zum 400 Meter weiter unten schäumenden Rhein ab. An der Aussichtsplattform Il Spir, dem „Mauersegler“, ist der Tiefblick am eindrucksvollsten. Waghalsig freischwebend und nichts für schwache Nerven.
Es dauerte wohl an die 1000 Jahre, bis sich der angestaute Fluss durch den bis heute größten bekannten Bergsturz der Alpen schnitt und die 14 Kilometer lange Rheinschlucht aushobelte. Gewaltige weiße Steilwände, unterbrochen von dunkelgrünen Fichten- und Föhrenwäldern, begleiten uns auf dem Weg in den Schluchtgrund. Unten staut sich die Mittagshitze in den Auenwäldern. Es ist wieder schwül geworden. Erneutes Donnergrollen schickt uns zur Bahnstation von Versam, mitten im Herzen der Schlucht. Wie die Wanderung begonnen hat, endet sie auch. Ein kurzer, schriller Pfiff kündigt den Zug nach Chur an.

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